Kategorischer Imperativ – Die normative Perspektive

Immanuel Kant geht davon aus, dass jedes vernünftige Wesen in jeder Situation erkennen kann, welche Entscheidungen moralisch geboten sind und in der Lage ist, danach zu handeln. Als Maßstab für das aus sittlicher Sicht erforderliche Verhalten legt Kant nicht einen Katalog von moralischen Gesetzen (wie z.B. die Zehn Gebote) zugrunde, sondern eine formale Regel, die er als „Kategorischen Imperativ“ bezeichnet. Aus dieser formalen Regel bzw. aus diesem normativen Meta-Prinzip kann jeder vernünftig denkende Mensch selbst die jeweils ethisch verbindliche Beurteilung einer Situation ableiten. In seiner Grundform lautet der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Kant wusste natürlich auch, dass jeder Mensch zu aller Zeit in der Gefahr stand, als Mittel zum Zweck missbraucht zu werden. In einer weiteren Fassung lautet der Kategorische Imperativ deshalb: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
Der Gebrauch des Kategorischen Imperativs ist nach Kant kein fremdauferlegter Zwang, sondern die Chance, als Mensch Würde und persönliche Größe zu erlangen. Der sonst so nüchterne Philosoph aus Königsberg beschließt seine „Kritik der praktischen Vernunft“ mit dem poetischen Satz:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“
Da sich der Mensch durch Reflexion selbst wie aus der Perspektive eines anderen betrachten kann, ist er prinzipiell auch in der Lage, den eigenen Willen zu lenken und an langfristigen Zielen und moralischen Maßstäben auszurichten. Reflexives, vernünftiges und selbstbestimmtes Denken stellt dabei das Gegenstück dar zu willkürlichem, emotionsgesteuertem und rücksichtslosem Reagieren. Um sich die eigene Freiheit grundsätzlich deutlich zu machen empfiehlt Immanuel Kant, sich die heldenhaft moralische Handlungsweise historischer Persönlichkeiten vor Augen zu führen. In dem Augenblick beispielsweise, indem wir mit Ehrfurcht und Staunen den Widerstandskampf der Weißen Rose betrachten, entdecken wir, dass nicht Lust, wohl aber Gerechtigkeit den Menschen zu Taten zu bewegen vermag, die das stärkste Verlangen, die Liebe zum Leben, überwinden. Beispiele für Helden im Sinne von Kant:
Die Weiße Rose: eine deutsche Widerstandsgruppe gegen die nationalsozialistische Diktatur, die hauptsächlich von Studenten getragen wurde.
Alexei Nawalny: zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilter Oppositionspolitiker Russlands, der am 19.02.2024 im Gefängnis zu Tode kam.
Gisèle Pelicot: wurde von ihrem Mann betäubt und im Internet zur Vergewaltigung angeboten. Um die Opferrolle hinter sich zu lassen und den Tätern die Scham zuzuordnen, setzte sie durch, dass der Prozess im Jahr 2024 unter Zulassung der Öffentlichkeit stattfand und die Videoaufnahmen der Taten im Beweisverfahren gezeigt wurden.
Denken, Entscheiden und Handeln sind nicht insofern frei, als sie maß- und schrankenlos vonstatten gehen, sondern dadurch, dass sie sich an einsichtigen und begründeten Prinzipien orientieren und freiwillig befolgt werden, auch wenn sie dem spontanen Gutdünken oder dem momentanen Lustgewinn zuwiderlaufen. Ein Leben nach philosophisch begründeten ethischen Maßstäben zu führen, ist nach Kant allen mündigen Bürgern möglich. Die Prinzipien nachhaltiger Lebensgestaltung und dauerhafter Erfolge können von jedermann erkannt und in die Tat umgesetzt werden.
Dies bedeutet einerseits, die innere Stimme zu entdecken und in jeder Altersphase und zu allen Zeiten danach zu leben. Des weiteren den roten Faden in der eigenen Biografie zu erkennen und die persönlichen Leistungen und Fähigkeiten wertzuschätzen, sowie Irr- und Umwege als wichtigen Bestandteil des eigenen Lern- und Entwicklungsprozesses betrachten und in das Gesamtbild eines sinnvollen Werdegangs einzuordnen. Schließlich die Aufgaben in jedem Lebensabschnitt auszumachen und von einem visionären Zukunftsstandpunkt aus in Angriff zu nehmen. Andererseits impliziert Mündigkeit aber gleichermaßen, den eigenen Begabungen entsprechend gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und anderen Menschen dabei zu helfen, ihre individuellen Lebensziele zu erkennen und zu verwirklichen.

Gesetz der Ernte –
Die zeitliche Perspektive
Die Gans, die goldene Eier legt
In Aesops Fabel von der Gans, die goldenen Eier legt, entdeckt ein armer Bauer eines Tages im Nest einer seiner Gänse ein golden glänzendes Ei. Zunächst hält er das für eine Täuschung, lässt das Ei aber dennoch prüfen. Und tatsächlich, es ist aus reinem Gold! Der Bauer kann sein Glück kaum fassen und das Staunen nimmt kein Ende, denn Tag für Tag findet er erneut ein goldenes Ei. Er wird reich und meint zu träumen.
Aber mit dem sich mehrenden Reichtum wächst auch die Begehrlichkeit. Der Bauer will nicht mehr jeden Tag auf das goldene Ei warten und schlachtet deshalb die Gans, um sich alle Eier auf einmal einzuverleiben. Als er die Gans aufschneidet, ist sie leer. Keine goldenen Eier und keine Möglichkeit, weitere zu bekommen.
Kapital und Erfolg
Jeder Mensch ist zu Beginn seiner Biografie als Erwachsener mit einem bestimmten „Startkapital“ ausgestattet. Dabei handelt es sich um ein Portfolio aus physischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen, sprachlichen und politischen Ressourcen, auf die im weiteren Werdegang zurückgegriffen werden kann (siehe Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp 1987).
Wie und in welchem Umfang der einzelne Mensch diese verschiedenen Kapitalsorten pflegt und weiterentwickelt, liegt in einem gewissen Umfang in seiner eigenen Hand. Auch dann, wenn die ursprüngliche Kapitalausstattung als ungerecht empfunden wird, ist die langfristige Lebenslage wesentlich vom Umgang mit dem Startkapital abhängig.
Frosch- und Vogelsicht –
Die räumliche Perspektive
Ein Frosch möchte aus seiner Untersicht der Wirklichkeit ausbrechen und springt auf einem Trampolin in die Höhe, um endlich einmal die Welt aus der Sicht der Vögel betrachten zu können.


Teil und Ganzes –
Die systemische Perspektive
Das Wahre ist das Ganze
„Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte,
und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird,
ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt,
und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser.
Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorrede zur Phänomenologie des Geistes
Empathie & Synergie –
Die soziale Persepktive
Synergie steht dafür, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile. Auf der gesellschaftlichen Ebene und im zwischenmenschlichen Bereich schafft Synergie eine höhere Einheit, die Gegensätze vereint und Differenzen kreativ ausgleicht. Synergie liegt jenseits eines suboptimalen Kompromisses, der durch einen Interessenkampf ausgehandelt wurde. Sie entsteht, wenn man ergänzend und auf auf Augenhöhe aufeinander zugeht und gemeinsam dritte Alternativen entwickelt, die für beide Seiten besser sind, als die individuellen Ausgangspositionen. Beispiele für ein „Wir“ in diesem Sinne sind der „Mannschaftsgeist“ im Sport oder das harmonische Zusammenwirken eines (improvisierenden) Orchesters.
Soziale Synergie
Die Neugestaltung des Times Square nach einer Phase des Niedergangs und der Verwahrlosung unter Federführung eines jungen idealistischen Community-Aktivisten namens Herb Sturz (Stephen Covey: Die dritte Alternative. So lösen wir die schwierigsten Probleme des Lebens. Gabal 2012).
Musikalische Synergie
Das Orpheus Chamber Orchestra ist ein Kammerorchester mit Sitz in New York. Es arbeitet ohne Dirigent auf der Grundlage eines teamorienierten Abstimmungsverfahrens, das als „Orpheus Process“ bezeichnet wird (Harvey Seifter, Peter Economy: Das virtuose Unternehmen. Aktivieren Sie das Potenzial Ihrer Mitarbeiter mit der Methode des Orpheus Chamber Orchestra, Campus 2001).
Sportsynergie
Das harmonische Zusammenspiel aller Kräfte bei Mannschaftssportarten im Interesse gemeinsamen Erfolges und der auf Übung und intuitiver Spielintelligenz aufbauende Flow sowie die Kombination unterschiedlicher Rollen und Fähigkeiten zu einer starken Truppe mit einem starken Teamspirit liefern ein starkes Beispiel für Synergie im unmittelbar zwischenmenschlichen Bereich.
Farbsynergie
Bei der additiven Farbmischung werden z.B. rotes und grünes Scheinwerferlicht übereinander projiziert. Als Mischfarbe ergibt sich Gelb. Werden deckende Körperfarben wie Farbpulver, Gouachen, Künstler-Ölmalfarben oder Lacke verwendet, bezeichnet man dies auch als pointillistische Mischung.
Die praktische Frage, wie Synergie in Familie, Beruf, Bildungswesen, Rechtssystem und Gesellschaft verwirklicht werden kann, beantwortet profund Stephen Covey in seinem letzten Buch „Die 3. Alternative. So lösen wir die schwierigsten Probleme des Lebens“. Gabal 2012.


Systematisches Erfinden –
Die Innovationsperspektive
Zu den bemerkenswertesten Belegen für eine prinzipienorientierte Konstruktion der Wirklichkeit zählt m.E. die empirisch fundierte Erkenntnis, dass bahnbrechende Ideen auf einfachen Prinzipien beruhen!
Gerade dort also, wo man sich wiederholende Muster und Regelhaftigkeiten am wenigsten erwartet hätte, im Bereich der Innovation, können Originalität und schöpferisches Denken auf denkbar einfache Art und Weise nachvollziehbar und anwendbar gemacht werden.
Dies gilt für Produkt-, Dienstleistungs- und Sozialinnovationen, technische Erfindungen, kreative Geschäftsmodelle und Neuerungen im Alltagsleben gleichermaßen. Selbst die Metamorphosen der Natur folgen den Prinzipien der Erfindung.
Ursprünglich entdeckt wurden diese Muster von dem russischen Ingenieur Genrich Altschuller in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse von Altschuller beruhten auf der Analyse einer großen Anzahl von Patentanmeldungen und seine Methode ging als TRIZ in die Geschichte ein, ein russisches Akronym, das sinngemäß „Theorie des erfinderischen Problemlösens“ bedeutet.
Durch israelische Forscher wie Jakob Goldenberg und Roni Horowitz wurde TRIZ in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts empirisch überprüft, vereinfacht und auf den neuesten Stand gebracht. Das Beratungsunternehmen S.I.T. Systematic Inventive Thinking LTD mit Hauptsitz in Tel Aviv unterstützt heute weltweit Firmen und Organisationen bei Innovationsvorhaben.
Das Systematic Inventive Thinking beruht auf dem Grundprinzip der Geschlossenen Welt. Danach ist Entwicklung und Realisierung einer innovativen Idee vergleichbar mit der Entstehung eines Schmetterlings: obwohl im Äußeren grundverschieden, geht der Schmetterling zu 100% aus einer Raupe hervor – und zwar ohne dass etwas Neues hinzugefügt wird!
Zur Entwicklung von Bildideen greife ich regelmäßig auf die Denkwerkzeuge für systematisches Erfinden zurück.
Literatur
– Drew Boyd & Jacob Goldenberg: Inside the Box: A Proven System of Creativity for Breakthrough Results. Simon & Schuster 2013
– Jacob Goldenberg: Creativity in Product Innovation. Cambridge University Press 2002
Das Kreativ-Prinzip der „Geschlossenen Welt“ als Grundlage des Systematic Inventive Thinking realisiert in der Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling:
Obwohl im Erscheinungsbild und der organischen Struktur grundverschieden, geht der Schmetterling zu 100% aus einer Raupe hervor – und zwar ohne dass etwas Neues von außen hinzugefügt wird. Die Natur als Erfinderin!
