Der rote Faden im Lebenslauf
Theseus, der legendäre König von Athen, stellte seine Anwartschaft auf den Thron durch Kampf gegen das kretische Ungeheuer Minotaurus unter Beweis. Er drang in das Zentrum eines Labyrinths vor, in dem Minotaurus als Gefangener eingeschlossen war, und enthauptete das Doppelwesen mit menschlichem Körper und Stierkopf. Ariadne, die Tochter des König Minos, gab Theseus einen Faden, mit dessen Hilfe er wieder aus dem Labyrinth herausfinden konnte. Theseus erfüllt also seine Mission, indem er durch einen Irrgarten hindurch den Weg zu seinem Ziel findet. Er erkennt aber auch den zurückgelegten Weg, indem er den Faden bis zum Eingang zurückverfolgt.
Als Menschen haben wir den elementaren Wunsch, dass unser Leben einen Sinn hat. Dieser Sinn, nach dem wir in jeder Lebensphase neu suchen, ist der einzige seelische Schutz gegen die Unergründlichkeit des Daseins und die eigene Sterblichkeit.
Im späten Erwachsenenalter bzw. im sogenannten „Ruhestand“ geht es nicht mehr darum, eine Familie zu gründen, Vermögen aufzubauen und professionelle Leistungen zu erbringen – mit anderen Worten: ein Vermächtnis zu schaffen. Der Wert dieser vierten Lebensstufe kann vielmehr darin gesehen werden, sich für den Fortbestand essentieller eigener Erfahrungen, Werke und Beiträge zu engagieren. Die Grundlage hierfür ist eine gelungene Retrospektive auf die eigene Lebensgeschichte.

Es kann tief befriedigend sein, rückblickend zu erkennen, wie aus den Schlüsselpersonen, Schlüsselereignissen und Lebenswelten der Sozialisation sich ein persönlicher Mythos entwickelt hat, der in der Selbstfindungsphase der späten Jugend und des frühen Erwachsenenalters erprobt und in der anschließenden Hauptphase zu einem Lebensdrehbuch ausgearbeitet und in die Tat umgesetzt wurde. Neue und erhellende biografische Zusammenhänge sind dabei zu entdecken und monoton sich wiederholende Erinnerungsspuren können hinter sich gelassen werden.
Aus einer reflektierten Haltung heraus gilt es dabei, alle Episoden und Abschnitte, alle Höhen und Tiefen als wertvolle oder notwendige Bestandteile in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Verpasste Momente und verlorene Augenblicke ebenso wie unwiederbringlich schöne und bereichernde Erlebnisse. Schmerzhafte Erfahrungen in gleicher Weise wie beglückende Erfolge und gelungene Schöpfungen. Die Erfahrung von Heimat und Zugehörigkeit auf einer Stufe mit Wendepunkten, Aufbruch und Neuanfang in verschiedenen Lebensstadien.
Lebendige Rückbesinnung, Verständnis und Akzeptanz der biografischen Entwicklung sowie Dankbarkeit für die Wunder und Sonnenseiten des eigenen Lebens sind spannende Lebensaufgaben für das späte Erwachsenenalter. Erinnerung gleicht mehr einer Gemäldesammlung als einer Aneinanderreihung von Fotografien – Reflexionskunst entdeckt und gestaltet diese inneren Bilder.
Für einen Neuanfang ist es nie zu spät
Biografie der Heimatschriftstellerin Fanni Schricker
Am 1. Mai 1991 vermerkte die Bäuerin und Hauswirtschaftslehrerin Fanni Schricker in ihrem Tagebuch: „Ich bin eine Frau von 61 Jahren und mein Leben ist fast vorbei! Aber trotzdem lebe ich noch sehr gerne.“ Noch im gleichen Jahr fasste sie den Entschluss, die Arbeit am eigenen Hof an den Nagel zu hängen und ihren Lebenstraum in die Tat umzusetzen: Selbsterlebte Heimatgeschichten zu schreiben, sie zu veröffentlichen und einem begeisterten Publikum vorzutragen. Eine zweite Laufbahn begann. Schreiben war fortan ihr Ruhestand.
Das Buchprojekt ihrer Tochter Marianne Schricker-Hager erzählt von der außergewöhnlichen Kreativität und dem Organisationstalent einer Frau aus prekären Familienverhältnissen, die nach dem zweiten Weltkrieg mit ihrem Mann einen landwirtschaftlichen Betrieb aufbaut, vier Kinder großzieht und in ihrem letzten Lebensabschnitt aus eigener Kraft zur Heimatschriftstellerin avanciert.
Die illustrierte Biografie von Marianne Schricker-Hager lässt den Werdegang, die Lebenswelt und die Geschichten ihrer Mutter noch einmal lebendig werden.

Rechts im Bild: Fanni Schricker im Fernsehen. Zu sehen war die Heimatschriftstellerin am Dienstag, den 26. Januar 2010, im Bayerischen Fernsehen in der Sendung „Frankenschau aktuell“.

Die beiden Werke von Fanni Schricker.
Anerkannte Beiträge zur Heimatliteratur.
Persönliches Erinnerungsbuch

Erinnerungsbuch Rückseite

Erinnerungsbuch Cover
Expedition in Kindheit und Jugend
Mit dem Beginn des späten Erwachsenenalters und dem Eintritt in die „Ruhestandsphase“ des Lebens entfallen nicht nur die bisherigen Lebensaufgaben, es verändert sich auch die primäre Blickrichtung: weg von der ausschließlichen Orientierung auf Gegenwart und Zukunft, hin zur Betrachtung des eigenen Werdegangs und dem, was im Leben erreicht bzw. verfehlt wurde – und was zu guter Letzt noch anzustreben ist.
Wenn die Erfüllung durch Beruf und Familie in der Vergangenheit liegt, rückt gleichermaßen die Gestaltung des eigenen Vermächtnisses in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Während das eigene Ende bisher in einer unendlich weit entfernten Zukunft zu liegen schien, ist es nun in greifbare Distanz gerückt. Korrekturen am Lebenslauf sind jetzt nicht mehr möglich. Stattdessen ist die Zeit gekommen, die Erinnerung zu bewahren, konstruktiv Bilanz zu ziehen, die wichtigsten Bezugspersonen zu verstehen und schließlich den roten Faden im eigenen Leben zu erkennen, um daraus Kraft zu schöpfen und Impulse für die abschließende Lebensetappe zu gewinnen.