Zeitgenössische Soziologen sind sich grundsätzlich einig, dass die Gesellschaften des Westens derzeit einen Epochenwandel von der klassischen „Industriellen Moderne“ hin zur „Postindustriellen Spätmoderne“ durchlaufen. Unterschiede in den Epochenbezeichnungen und den gesellschaftstheoretischen Schwerpunktsetzungen (Spätmoderne vs Spätkapitalismus etc.) einmal außer Acht gelassen. Umfassende Analysen hierzu stammen beispielsweie von Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne (Suhrkamp 2019) oder von Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Suhrkamp 2019).
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft
Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne war insgesamt einerseits durch eine – auch staatlich und gewerkschaftlich gesteuerte – relativ egalitäre Wohlstandsverteilung gekennzeichnet, andererseits durch – vom verlässlichen Wirtschaftswachstum angetriebene – kontinuierliche Wohlstandsgewinne. Sowohl die Arbeiterschaft als auch die ländliche Bevölkerung konnten auf dieser Basis nach 1945 größtenteils in die allumfassende Mitte integriert werden. Interessanterweise stellte sich für den Wohlstand der Mittelklasse in diesem Kontext der Grad der formalen Bildung nicht als entscheidend heraus – auch geringe formale Qualifikationen waren kein Hindernis für ein Mittelklasseleben, da die fordistische Massenproduktion solche Qualifikationen nicht zwingend voraussetzte. Die gesellschaftliche Mitte wurde so von Facharbeitern, kleinen Angestellten, Selbständigen und Ungelernten gleichermaßen getragen.
Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft basierte nicht nur auf einer vergleichbaren Ressourcenausstattung der breiten Mitte, sondern auch auf einer bestimmten Alltagskultur. Man kann sie als kleinbürgerlich umschreiben. Die Mittelklasse konnte sich so als sein Mittelstand mit entsprechend standesgemäßen Verhaltensweisen verstehen, der nach 1945 habituell auch die Arbeiterschaft einschloss. Das Arbeits- und Familienethos war ausgeprägt, die Sicherung und Verbesserung des sozialen Status zentrales Ziel. Man strebte danach, jenes in Maßen komfortable Leben jener zu führen, die es geschafft haben. Man war fest entschlossen, so normal wie jeder andere zu sein oder vielleicht ein bisschen normaler. Dieses Streben nach sozialer Normalität durchzog alle Lebensbereiche: den Konsum und die Freizeit, die Arbeit und den Beruf und auch die Familie und die Geschlechterbeziehungen. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft war eine patriarchalische Gesellschaft, die auf dem klassischen Modell der Kleinfamilie mit dem Mann in der Ernährerrolle und der Frau als Hausfrau basierte. Auch die Erziehung der Kinder war in der Regel auf stille Konformität angelegt – der Ausdruck von Emotionalität oder abweichendem, gar exzentrischem Verhalten nicht gewünscht. Die Mitte war nicht nur eine soziale und materielle, sie war auch eine kulturelle Größe: indem sie das Mittlere und Maßvolle, die Ordnung und die Regeln betonte, in die sich die Einzelnen in der Familie, am Arbeitsplatz und am Wohnort einzugliedern hatten.
Jugendliche Gegenkultur
Ausgehend von den USA entwickelte sich in den 1960er Jahren in den westlichen Industrieländern in der jungen Generation eine eigene Sub- bzw. Gegenkultur. Zahlenmäßig doppelt so stark wie die Generation ihrer Eltern, formten die Teenagergenerationen eine zunehmend ungebundene und selbstbewußte Bevölkerungsgruppe, die steigenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß ausübte. Aufgewachsen in den wirtschaftlich florierenden 50er Jahren, betrachteten die betreffenden Jahrgänge Wohlstand als ihr Geburtsrecht. Die Jugendlichen verfügten über eigenes Taschengeld und schon bald begann der Handel, aus der neuen Zielgruppe Kapital zu schlagen. Der weltweite erste Kinder- und Jugendmarkt etablierte sich: preiswerte modische Kleidung wurde produziert, der Plattenmarkt expandierte, günstige Kosmetika kamen auf den Markt und die Transistorradios verbreiteten weltweit den neuen Pop- und Rocksound. Hinzu kam der Einfluß der Massenmedien, die Verkehrserschließung ländlicher Räume und die steigende Motorisierung von Jugendlichen.
Die puritanische Pflicht- und Akzeptanzethik der Nachkriegsgeneration weckte zunehmend Widerstand. Individual- und Wachstumsbedürfnisse wie Freiheit und Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, Ästhetik und Transzendenz wurden stattdessen auf Seiten der Jugend auf die Tageaordnung gesetzt. Eine politische und künstlerische Avantgarde befeuerte den neuen jugendlichen Zeitgeist und erweckte neue soziokulturelle und politische Jugendbewegungen zum Leben:
1. „Großdenker“ und ihre Nachfolger wie Georg W.F. Hegel, Karl Marx, Sigmund Freud, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir u.a. liefern intellektuelle Grundlagen für die Gesellschaftskritik.
2. Die Kultur- und Sozialgeschichte stellt Anschauungsmaterial für eine eigen- und widerständige Jugendkultur zur Verfügung: Sturm und Drang, Romantik, Bohème des 19. Jahrhunderts sowie Jugendbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts (Wandervogel).
3. Eine neue Schriftstellergeneration wie z.B. die Autoren der Beat Generation (Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs) beschreibt und idealisiert das alternative Leben. Die „Beatniks“ zeichneten sich vielfach durch extravagante Lebensführung, Spontaneität und impulsive Kreativität aus. Hermann Hesse wird in den USA wiederentdeckt und mit seinem Roman „Der Steppenwolf“ zum Namensgeber für die bekannte US-amerikanisch-kanadische Hard-Rock-Band der späten 1960er Jahre.
4. Progressive Kunstrichtungen des beginnenden 20. Jahrhunderts wie Surrealismus, Dadaismus oder Fluxus beflügeln ihrerseits die künstlerische Avantgarde der Jugendkultur wie den Lettrismus (Isidore Isou), den Situationismus (Guy Debord) oder Fluxus (George Maciunas).
5. Autoren wie der Religionsphilosoph Alan Watts popularisieren die fernöstliche Philosophie und Spiritualität und tragen zur Ausbreitung esoterischer Bewegungen innerhalb der gegenkulturellen Jugendbewegung bei. Der indische Guru Maharishi Mahesh Yogi beispielsweise, Urheber der sog. „Transzendentalen Meditation“ und Begründer einer spirituellen Erneuerungsbewegung, versammelte 1968 Pop- und Filmgrößen wie die Beatles, die Beach Boys, Donovan, Clint Eastwood und Mia Farrow zu Meditationskursen in seinem indischen Aschram.
6. Die Filmindustrie kreiert eigene Genres wie das Roadmovie. Die Handlung spielt dabei überwiegend auf Landstraßen und Highways, die Reise wird zur Metapher für die Suche nach Freiheit und Identität der Protagonisten. Oft wird in diesen Filmen die erzählende Wirkung von Liedern aus der Pop- und Rockmusik eingesetzt. Der bekannte Kultfilm „Easy Rider“ war Easy Rider 1969 der offizielle Beitrag der Vereinigten Staaten zum Film-Festival Cannes.
7. Die 68er-Generation favorisierte die sog. „Antiautoritäre Erziehung“, die sich stark auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich und die „Reformpädagogik“ (Pädagogik vom Kinde her) stützte. Reich hatte in 1930er Jahren eine Prophylaxe gegen die Massenneurosen gefordert, die das Ergebnis einer patriarchalischen und sexualunterdrückenden Erziehung seien. Die Schriften des britischen Pädagogen Alexander Sutherland Neill, Gründer der reformpädagogischen Schule „Summerhill “ und Reich-Schüler, trugen wesentlich zur Verbreitung dieser pädagogischen Ausrichtung bei. Zu ihren Charakteristika zählen Ideale der Rechte, der Freiheit und der Entwicklungsautonomie des Kindes. Die Erziehung soll von Zwängen und der Übermacht der Pädagogen möglichst befreit werden, damit sie der Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes nicht im Wege steht; infolgedessen bemühte sich die antiautoritäre Erziehung nicht nur um eine Förderung der psychischen Unabhängigkeit des Kindes, sondern auch um eine Liberalisierung der Reinlichkeits- und Ordnungserziehung und eine Enttabuisierung und „Befreiung“ der kindlichen Sexualität.
Unmittelbare Konsequenzen dieser soziokulturellen Einflüsse auf die Generation der Jugendlichen:
1. Politisch-sozialkritische Bewegungen (Free Speach Movement, Neue Linke, Bürgerrechts- und Studentbewegung)
2. Spirituelle Strömungen (New Age, Esoterik)
3. Alternative Lebensstile (Hippies, Aussteiegr, Gammler)
4. Eine kommerziell orientierte Pop- und Rockkultur
Das verbindende Medium für die verschiedenen Formen der Gegenkultur war der Beat. Beat und Pop-Rock sind als „sprachlose Opposition“ (Dieter Backe) bezeichnet worden, die die am wenigsten artikulierte Form der Gesellschaftskritik darstellten, aber die aufkommenden (politischen) Protesteauf auf der symbolischen Ebene begleiteten.
Postindustrielle Spätmoderne
Die Moderne hat sich im 16. Jahrhundert ideell (Reformation, Säkularisierung, Aufklärung, Wissenschaft etc.) und strukturell (Entdeckungen und Eroberungen, Industrialisierung, Demokratisierung etc.) zu formieren begonnen und in ihren westlichen Ursprungsländern einen fundamentalen Umbruch in allen Lebensbereichen gegenüber der feudalen und kirchlich dominierten Lebensform des Mittelalters bewirkt. Auf der Basis technisch-ökonomischer Überlegenheit und kolonialer Expansion sowie postkolonialer Herrschaftsstrukturen entwickelte sie sich zum weltweit dominierenden Existenzmodell gegenüber allen „nicht-modernen“ Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Autoritäre politische Gegenbewegungen linker („Diktatur des Proletariats“) wie rechter („Herrschaft der kulturstiftenden Rasse“) Herkunft konnten den Siegeszug des liberalen Modells vorerst nicht aufhalten. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vertrat deshalb in seinem Buch „The End of History and the Last Man“ aus dem Jahr 1992 die historisch mittlerweile widerlegte These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig global durchsetzen würden.
Prometheus verkörpert den Geist der siegreich aus der Schlacht gegen die Vormoderne und die Systemkonkurrenz des Sozialismus hervorgehenden Moderne. Seine Hybris verleitet ihn, nur den momentanen Schwächezustand der unterlegenen historischen Kräfte zu sehen und sich selbst für unbezwingbar zu halten. Die Sowjetunion liegt in Trümmern, China öffnet sich dem Westen, die islamische Welt ist ohne geostrategische Bedeutung und Afrika ohnehin im freien Fall begriffen. Die Potenziale, Stärken und die soziokulturellen Triebfedern und Gegenkräfte der unterlegenen Gegner übersieht er.
Veränderungen in der eigenen Gesellschafts- und Kulturformation und deren destabilisierende Langzeitfolgen nimmt Prometheus ebenfalls nicht wahr. Beispielhaft genannt seien die Entwicklung zur industriellen Wissensgesellschaft und einer Gesellschaft der Singularitäten. Eine urbane, kosmopolitische, international mobile und kulturelle weltläufige neue Mittelklasse wächst heran. Die alte Mittelklasse schrumpft allmählich. Eine prekäre Unterklasse entsteht. Für die alte Mittelklasse wird eine breite Trivialkultur angeboten, die nahtlos in die Proletkultur der Unterklasse übergeht. Letztere repräsentieren das Dienstleistungsproletariat der Gesellschaft, dass sich wirtschaftlich durchlaviert. Alte Mittelklasse und neue Unterklasse gehören zu den Sesshaften der Gesellschaft. Heimat und Herkunft sind ihr kultureller Bezugsrahmen. Es sind die Normalos beziehungsweise Prolos. Aus der Sicht der neuen Mittelklasse wird ihnen keine Systemrelevanz zugesprochen.
Innerhalb der alten Mittelklasse und der neuen Unterklasse entwickeln sich Ressentiments gegen die neue Mittelklasse. Deren Offenheit für Einwanderung, Diversität, Identitätspolitik und fremde Kulturen, verbunden mit einem distinguierten und luxuriösen Lebensstil in finanzieller Unabhängigkeit, aktivieren einen Elitenhass, der populistischen politischen Strömungen Vorschub leistet.
Mein Bildcomposing „The End of History“ beruht auf einer kritischen Sicht des Paradigmas, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 in seinem Buch The End of History and the Last Man vertreten hat. Fukuyama war der durch den Geschichtsverlauf mittlerweile widerlegten Ansicht, dass sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft in absehbarer Zeit weltweit durchsetzen würden.
Der dem Bild von Heinrich Friedrich Füger entnommene Prometheus im Zentrum einer Finanzmetropole steht als Metapher für die Hybris der westlichen Zivilisation in den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Das Paradigma der Hybris verletzte das Prinzip der Fairness und Wertschätzung anderer Kulturen und musste deshalb scheitern. Dies bedeutet jedoch in keiner Weise, dass alle anderen Kulturen von prinzipienorientierten Paradigmen geleitet und damit auf einem normativ richtigen Weg sind.
Zur Entwicklung meiner Bildideen nutze ich Methoden des Systematic Inventive Thinking, das auch meinen Erfahrungen im Innovations-Coaching zugrunde liegt. Den digitalen Composings liegen als Ausgangsmaterial (eigene) Fotografien oder KI-Elemente zugrunde, die anschließend kreativ weiterverarbeitet werden.
Kampf der Kulturen, Anthropozän und Metaversum
Unverhofft hat sich eine doppelte Zeitenwende eingestellt.
Innerhalb der westlichen Gesellschaften haben extreme Individualisierung und Deregulierung sowie äußerste Dynamisierung und Wachstumsbeschleunigung einen „Rasenden Stillstand“ (Hartmut Rosa) erzeugt mit unbewältigten systemimmanenten politischen, ökonomischen, psychischen und ökologischen Folgeproblemen. Populismus, Etablierung einer „postfaktischen“ Politik, Cancel Culture, Elitenhass und Demokratiefeindlichkeit treten als unerwartete Nebenfolgen der Modernisierung inzwischen überdeutlich zu Tage.
Durch folgende vier Phänomene ist dieses Modell aber nicht nur von Innen (Populismus), sondern in besonderem Maß auch von Außen bedroht:
- Liberalisierung ohne Demokratie: die weltweite Ausdehnung einer liberalen Ökonomie unter der Vorherrschaft globaler westlicher Konzerne (Globalisierung) ohne gleichzeitige Demokratisierung der betreffenden Länder.
- Neuer Autoritarismus: das Wiedererstarken autoritärer Staatengebilde wie China oder Russland widerlegt zentrale Argumente Fukuyamas.
- „Kampf der Kulturen“: Traditionale Kulturen und religiöse Fundamentalismen sind beständiger, als angenommen. Anstelle einer Angleichung an die kapitalistisch-demokratische Moderne kommt es zum „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington). Nach der zeitweiligen Feindseligkeit zwischen den Ideologien kommt wieder der alte Konflikt zwischen den Zivilisationen zum Ausbruch. Dieser äußert sich in asymmetrischer Kriegführung (Terrorismus) wie in herkömmlichen Aggressionskriegen (Ukraine-Feldzug Russlands).
- Migration im Massenmaßstab aufgrund ökologischer Belastungen und prekärer wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse in den postkolonialen und – kommunistischen Staaten.
Die gestiegene Problemkomplexität sowie der innere und äußere Konflikt- und Veränderungsdruck verunsichern große Teile der Bevölkerung in den Demokratien der Postindustriellen Spätmoderne.
Als politisch-wissenschaftlich-künstlerische Richtung wendet sich die Postmoderne gegen Institutionen, Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Moderne und versucht, diese zu überwinden. Das Innovationsstreben der Moderne wird als mechanisch und gedankenlos kritisiert. Die Moderne sei durch ein unumschränktes technisch-ökonomisches Fortschrittsprinzip gekennzeichnet, das bekämpft werden müsse. Dem wird die Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven gegenübergestellt. In der Architektur werden die Unterschiede zwischen moderner und postmoderner Philosophie besonders deutlich.